20.12.2011 - Süddeutsche Zeitung

 

Bis über beide Ohren wütend (Kommentar)

 

Bürger protestieren gegen den Lärm des Frankfurter Flughafens und die Verlogenheit der Politiker

Von Marc Widmann

Wer sich dafür interessiert, wie Politikverdrossenheit entsteht, für den lohnt sich in diesen Tagen ein Blick nach Hessen. Dort rufen die Menschen nun wieder „Lügenpack, Lügenpack“, dort ziehen jeden Montag Tausende in den Terminal 1 des Frankfurter Flughafens und schreien ihre Wut heraus. Diese Wut gilt den lärmenden Flugzeugen über ihren Dächern, sie gilt genauso den hessischen Volksvertretern, die es ihren Bürgern viel zu leicht gemacht haben, zornig zu sein.

Die erste Lüge erzählte der hessische Regierungschef Holger Börner von der SPD. Nach den Schlachten um die Startbahn West mit zwei Toten verkündete er, kein Baum werde mehr fallen für den Flughafen. Einige Jahre später brachte eine rot-grüne Regierung den nächsten Ausbau auf den Weg. Es fielen mehr als 200 Hektar Bäume.

Die zweite Lüge stammt von einem CDU-Regierungschef. Roland Koch versprach den Hessen, es werde keinen Ausbau geben ohne ein strenges Nachtflugverbot, untrennbar gehöre beides zusammen. Dann drohte die Lufthansa mit einer Klage, und schon war auch dieses Versprechen perdu. Ist es da ein Wunder, dass die Demonstranten auf ihren Plakaten Börner als „Lärmterroristen“ und Koch als „Judas“ titulieren?

Für die heutigen Regierenden war der Flughafen immer nur der „Jobmotor“. Es gibt davon noch einen in Frankfurt: die Finanzbranche; auch sie muss man besänftigen, darf sie nur nicht einengen, damit sie bleibt und gedeiht. Wer genau hinhörte, konnte schon vor zwei Monaten die wütenden Bürger hören, bei der Einweihungsfeier der vierten Landebahn. Aber Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) rief dennoch „für das ganze Land einen Tag der Freude“ aus.

Jetzt ist der Zorn der Anwohner unüberhörbar geworden. Jetzt erleben sie den Lärm jeden Morgen von fünf Uhr an – viel schlimmer, als sie es sich vorgestellt haben, betrogen auch von einigen Kommunen, die in den Anflugschneisen noch Häuser errichten ließen. Die Bürger fühlen sich enteignet, weil ganze Stadtteile für lärmsensible Menschen unbewohnbar geworden sind. Jetzt wird klar, dass die vierte Bahn an der falschen Stelle betoniert wurde, zu nah an den Menschen. Aber jetzt ist es zu spät, jetzt liegt sie schon da, für 1,4 Milliarden Euro.

Und die hessischen Politiker, preisen sie immer noch den Jobmotor? Sie bekommen es mit der Angst zu tun. Volker Bouffier ruft eilends einen Lärmgipfel ein, vergisst dabei aber die betroffenen Anwohner. Und Innenminister Boris Rhein – er will in Frankfurt Oberbürgermeister werden – hat sich flugs abgesetzt von der offiziellen CDU-Linie. Er ist jetzt für ein strenges Nachtflugverbot und hat sich einen Plan ausgedacht für weniger Lärm. Er denkt wohl vor allem an die Villen vieler CDU-Wähler, die nun im Süden Frankfurts einen eindrucksvollen Ausblick auf landende Flugzeuge haben. Wen wundert es, dass die Demonstranten immer noch etwas lauter schreien, sobald von diesen Herren die Rede ist?

(Süddeutsche Zeitung vom 20. Dezember 2011, Seite 4)

 

Aus dem Greenpeace Magazin Ausgabe 4.12

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